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. . . Paul Stohrer . . 1909 - 1975

Portrait Paul Stohrer

Geboren am 3.8.1909 in Stuttgart

1926 - 35 Mitarbeiter bei Paul Gebhardt in Stuttgart
1927 - 34 Studium an der Baugewerkeschule Stuttgart
1935 Gründung des eigenen Architekturbüros in Stuttgart
1929 - 44 Studium an der Technischen Hochschule Stuttgart
1947 - 72 Lehrer an der Staatsbauschule Stuttgart
1959 - 72 Mitglied der Künstlergruppe ligne et couleur in Stuttgart

Gestorben am 30.6.1975 in Stuttgart

 

 

Paul Stohrer wird in Stuttgart geboren, wo sein Vater als Druckermeister tätig ist. Bereits als Kind entwickelt er starke künstlerische Neigungen und zeichnet leidenschaftlich gerne. Beeinflusst von einem handwerklich orientierten Elternhaus, schließt er die Schule 1925 mit der mittleren Reife ab und absolviert eine Zimmermannslehre. Parallel arbeitet er ab 1926 als Praktikant beim Stuttgarter Architekten Paul Gebhardt, da er aufgrund seines künstlerischen Interesses Architekt werden möchte. Nach zweijähriger Lehrzeit nimmt Stohrer ein Architekturstudium an der Württembergischen Baugewerkeschule auf, bleibt aber weiterhin in Gebhardts Büro angestellt, wo er an Bauprojekten im Kontext der zeitgenössischen Entwicklung einer modernen Stuttgarter City beteiligt ist. Nebenher besucht er ab 1929 auch Vorlesungen an der renommierten Technischen Hochschule. Dadurch entwickelt Stohrer frühzeitig einen breit gefächerten Blickwinkel, der ihm sowohl die traditionelle Architekturauffassung der von Paul Bonatz und Paul Schmitthenner geprägten Stuttgarter Schule als auch zeitgenössische Tendenzen des Neuen Bauens mit seinen speziellen Themen wie Typisierung oder funktionalistischer Grundrissgestaltung vermittelt.

1934 macht Stohrer seinen Abschluss an der Baugewerkeschule. Bereits im folgenden Jahr eröffnet er ein eigenes Architekturbüro und kann zahlreiche Einfamilienhäuser ausführen. Aufträge kann er vor allem durch seine gesellschaftlichen Kontakte generieren, die er als Mitarbeiter von Paul Gebhardt knüpfen konnte. Stohrers Wohnhausentwürfe weisen eine konservative Grundhaltung auf, die mit kubischen Baukörpern und schlicht gehaltenen Steildächern dem Grundmuster der Stuttgarter Schule entsprechen. Damit fügen sich die Bauten zudem in den politisch genehmen Formenkanon ein, der seit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 das deutsche Bauwesen beherrscht. Asymmetrische Fenstergliederungen oder vorgelagerte Terrassen und Balkone spiegeln jedoch die individuelle Grundrissgestaltung auch im Fassadenbild wider. Als der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Bautätigkeit zurückgehen lässt, nimmt Stohrer erneut sein Studium an der Technischen Hochschule auf. 1942 wird er zum Kriegsdienst einberufen. Als er aber 1944 an Fleckfieber erkrankt, wird er aus dem Militär entlassen und kann er sein Studium mit dem Diplom abschließen. Bis Kriegsende bleibt er an der Forschungsanstalt Graf Zeppelin in Ruit notdienstverpflichtet.

In der Nachkriegszeit gelingt Stohrer mit Instandsetzungsarbeiten und Wiederaufbauaufträgen ein rascher Neubeginn als freier Architekt. Aus seinem privaten Interesse für die Theaterkunst, mit der er sich während seines Lazarettaufenthalts 1944 auch architektonisch beschäftigt, resultieren mehrere Theaterbauprojekte. Für das Kabaretttheater "Mausefalle" in Stuttgart entwickelt er ein neuartiges Bestuhlungskonzept mit individuell drehbaren Sesseln. Ähnlich wie Gerhard Graubner oder Werner Kallmorgen bemüht sich Stohrer darum, beim Wiederaufbau kriegsbeschädigter Theaterhäuser die Idee einer Raumbühne umzusetzen und die Säle von überbordender historistischer Dekoration zu befreien. Aufgrund seiner Erfahrungen im Theaterbau erhält Stohrer auch mehrere Aufträge für Kinosäle. Für die Neugestaltung des Film-Casinos richtet er 1951 ein Zweigbüro in München ein und kann in den Folgejahren auch dort mehrere Projekte realisieren. Über seine Kontakte zur süddeutschen Theater- und Künstlerszene erhält er zahlreiche Aufträge für Einfamilienhäuser, die sich mit ihrer individuellen Raumgestaltung nun deutlich vom starren Muster der Stuttgarter Schule freimachen.

Bereits in den frühen Nachkriegsjahren etabliert sich Paul Stohrer in Stuttgart als ein den neuen Strömungen der Zeit aufgeschlossener Architekt, der auch den architektonischen Neubeginn nach dem Ende des Dritten Reichs verkörpert. Baukünstlerische Impulse bezieht er sowohl von den amerikanischen Bauten von Richard Neutra oder Marcel Breuer als auch von der mit klassischen Sehgewohnheiten brechenden italienischen Architektur. In seinen Büro- und Geschäftshäusern, die infolge des deutschen Wirtschaftswunders in den 1950er Jahren zu einem Hauptaufgabengebiet für Stohrer werden, knüpft er mit plastisch geformten Baukörpern an Vorbilder von Luigi Moretti, Gio Ponti oder Ugo Luccichenti an. Die moderne Stahlbetonskelettbauweise spiegelt sich auch im Erscheinungsbild wider, indem er sowohl das Material offen zur Schau stellt als auch eine plastische Strukturierung entwickelt, die den Fassaden eine besondere Tiefenwirkung verleiht. Diese abstrakten Oberflächenkompositionen sind von zeitgenössischen Tendenzen der bildenden Künste inspiriert, die Stohrer durch seine Kontakte zur lokalen Kunstszene sowie als Gründungsmitglied der Stuttgarter Künstlergruppe "ligne et couleur" mitverfolgt. Auch Einflüsse figürlich gestalteter Bauten von Oscar Niemeyer oder Le Corbusier werden von Stohrer rezipiert.

Parallel zu seiner Arbeit als freier Architekt lehrt Paul Stohrer seit 1947 an der Stuttgarter Staatsbauschule, wo er zunächst die Baugeschichte sowie ab 1951 die Fächer Entwerfen und Innenausbau vertritt. In den frühen Nachkriegsjahren nimmt er mit seinen spielerischen Entwurfsansätzen eine Gegenposition zu Rudolf Lempp ein, einem Vertreter der Stuttgarter Schule, der als Leiter der Staatsbauschule eine konservative Linie verfolgt. Erst nach Lempps Ausscheiden erhält Stohrer 1959 eine ordentliche Professur und bleibt bis zu seiner Emeritierung 1972 einer der prägenden Lehrer. Stohrers Tendenzen, seine Entwürfe organisch zu entwickeln und plastisch durchzuformen, korrespondieren mit dem aufkommenden Brutalismus, der sich seit den späten 1950er Jahren als Gegenmodell zum Rationalismus des "International Style" entwickelt. Vor allem in mehreren Wohnhausprojekten, die er ab 1965 als Hausarchitekt der Universum Treubau realisieren kann, kommt Stohrers figürliche Baukonzeption gut zur Geltung. Mit terrassierten Gebäudeensembles folgen die Häuser nicht nur der im Stuttgarter Raum vorherrschenden Topografie, sondern schaffen auch maßstäblich gegliederte Gebäudestrukturen, die zugleich dem zeitgenössischen Streben nach urbaner Dichte entsprechen. Stohrers individuelle architektonische Note verleiht diesen Baukomplexen, trotz zeitbedingter Vorfertigungsbauweise, einen eigenständigen Ausdruck.

Im Alter von erst 65 Jahren stirbt Paul Stohrer 1975. Seine laufenden Bauaufträge werden vom Büroleiter Rolf Dieter zu Ende geführt. Mit seinen Bauten prägt Stohrer den Wiederaufbau von Stuttgart und gehört neben Rolf Gutbrod, Günter Wilhelm oder Hans Volkart zu den führenden Stuttgarter Architekten der Nachkriegszeit. Seine plastisch gestalteten Bauten, die vor allem durch ihre fragmentierten und geschichteten Fassaden einen eigenständigen Charakter entwickeln, bilden eine Ausnahme in der zeitgenössischen Architekturlandschaft. Stohrers spielerische Art des Entwerfens stellt dabei ein bewusstes Gegenmodell zur baukonstruktiven Strenge der Stuttgarter Schule dar.


Juli 2012

Literatur:

Ursula Grammel: Paul Stohrer. Architekt in der Zeit des Wirtschaftswunders
Stuttgart, 2011

Amber Sayah: Ein Heldenleben - der Stuttgarter Architekt Paul Stohrer (1909 - 1975)
In: Bauwelt 31/1987, S. 1127-1144

Haus Bauknecht. Stuttgart 1935-36
  Haus Bauknecht
  Stuttgart 1935-36
Ladenzeile Charlottenstraße. Stuttgart 1947-48
  Ladenzeile Charlottenstraße
  Stuttgart 1947-48
Geschäftshaus Englisch. Stuttgart 1949-54
  Geschäftshaus Englisch
  Stuttgart 1949-54
Gummifabrik Fulda. Frankfurt 1954-55
  Gummifabrik Fulda
  Frankfurt 1954-55
Rathaus. Stuttgart 1953-56
  Rathaus
  Stuttgart 1953-56
Stadttheater. Mönchengladbach 1956-59
  Stadttheater
  Mönchengladbach 1956-59
Bürohaus Stohrer. Stuttgart 1960-61
  Bürohaus Stohrer
  Stuttgart 1960-61
Bürohaus Iduna. München 1962-63
  Bürohaus Iduna
  München 1962-63
Galerie Domnick. Nürtingen 1966-67
  Galerie Domnick
  Nürtingen 1966-67
Wohnanlage Semiramis. Stuttgart 1969-79
  Wohnanlage Semiramis
  Stuttgart 1969-79